Theater

In nicht gerade Nachbarschaft zu unserer Schule befindet sich ein Theater, das zur Weihnachtszeit immer ein paar Stücke für Kinder aufführt. So auch dieses Jahr. Unsere Schule hatte bereits im Oktober geplant, Karten bekommen, Busse gechartert. Alles in Sack und Tüten. Die meisten Kinder freuten sich schon eine Woche vorher darauf – nicht auf das Theater, sondern auf die Busfahrt, weil sie noch nie mit einem Bus gefahren sind. Das finde ich ungeheuerlich, dass Kindern auf dem Land die Busfahrt verwehrt wird. Zweimal in der Woche habe ich Busaufsicht, es ist sehr übersichtlich.

Meine eigene Klasse habe ich auf den Besuch des Theaters vorbereitet. Schließlich war ich lange genug dort tätig, um ein bisschen was mitzubekommen. Dass zwar Sitze wie im Kino sind, aber weder gegessen noch getrunken werden darf. Dass es als Kindertheater auch mal ok ist, wenn die Hauptfigur mit lautem Rufen vor einem Bösewicht gewarnt wird. Dass am Ende geklatscht werden muss, bis einem die Hände bluten, wenn es toll war. Solche Sachen eben.

Als wir dort ankamen, war es draußen kalt, die Kinder hatten Hunger und durften ihre Rucksäcke nicht mitnehmen, in denen ihre Verpflegung steckte. In diese Anweisungen mischte ich mich nicht mit ein, weil ich an dem Tag, als das beschlossen worden war, Busaufsicht hatte und Frust aufkam, weil der Bus nicht kam. Ich musste den zwei Buskindern ihre Muttis anrufen und eine von ihnen herbestellen, um ihren Sohn und das andere Kind abzuholen. Deshalb war ich bei den Beschlüssen nicht dabei und meine Kinder schoben Hunger. Diät mit spraakvansmaak.

Gut war, dass ich lautes Magenknurren nicht verboten hatte, der Rest war noch besser, eine einzige Verfehlung. Meine Klasse verhielt sich leider fast tadellos, wurde aber von Kindern im zweiten Rang angespuckt. Die kleinen Klassen, also eins bis drei, waren so laut, dass selbst die Schauspielerinnen und Schauspieler zwischendurch fragten, ob sie jetzt mal weiterspielen dürfen. Ständig hielt es die Kinder ganz vorne (1. Klasse) nicht mehr auf den Sitzen. Sie brüllten, klatschten, heulten. Insgesamt ein gelungener Abend, nur vormittags.

Das Stück selbst war nett. Die Bühne recht aufgeräumt, verstellt von ein paar Klüften auf einer Drehscheibe, je nach Szene drehte sich das Ding und stellte eine andere Kulisse dar. Ronja Räubertochter und ihre Räuberbande schlüpfte in diverse Rollen, manche von ihnen in drei verschiedene. Die Kinder merkten davon nichts, die waren ja beschäftigt.

Am Ende gab es für alle Kinder ein Ausmalbild auf der Rückseite eines überdimensionalen Flyers (A4) zum Theaterprogramm auf Hochglanzpapier. Wenn Franz Hodler Ronja Räubertochter gemalt hätte, so würde sie aussehen. Auf Hochglanzpapier! Ausmalbild! Das ist der Anforderungsbereich drei, den ich in Klassenarbeiten nur ganz spärlich einsetzen darf, sonst werden die Noten zu schlecht.

Gefühlt umarmt

Grundschule. Saß mit einer meiner Töchter im Auto, als sie mich plötzlich umarmte. Dann fragte ich sie, ob sie das auch bei ihrer Klassenlehrerin täte. Nein, war die Antwort nebst einem verständnislosen Blick. Ich werde ständig umarmt. Anfangs fand ich das sehr befremdlich, mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt – deshalb meine Frage. Ich bin der einzige Lehrer. Mir geht es wie allen Kolleginnen. Wenn wir am Morgen über den Schulhof laufen, kommen einzelne Schülerinnen an und umarmen uns. Ich gebe zu, es sind weniger die Jungen. Ich kann mit Gewissheit sagen, es sind Alleinerziehende, deren Kinder sich einen „hug“ abholen. Andere Übereinstimmungen habe ich bisher nicht ausgemacht. Kuscheln mit spraakvansmaak.

Als ich einen Jungen mit Vehemenz auf die fehlende Unterschrift auf einem Elternbrief hinwies und diese zum wiederholten Mal einforderte, gab es eine solche Umarmung auch von ihm, sozusagen als Bestätigung der Ankunft meiner Botschaft. Am folgenden Tag hatte ich die Unterschrift.

Ich weiß nicht, wie ich mich diesbezüglich verhalten soll. Ich lasse das erstmal zu. Es ist spontan, wirkt irgendwie aufrichtig und irgendwie seltsam, weil distanzlos.

Es bleibt niemand davon verschont, selbst meine Schulleiterin nicht, die in gänzlich anderer Position auf die Kinder schaut und aus dieser Position heraus auch wahrgenommen wird. Ich bekam eine Nackenmassage, während ich die Ergebnisse der Bundesjugendspiele errechnete. Einen Reim kann ich mir darauf nicht machen, jedenfalls nicht mehr als das hier Geschilderte. Es scheint nur eine Geste zu sein, ähnlich dem Zahnseidetanz oder dem Torjubel von CR7, es könnte aber auch mehr sein. Ich weiß es nicht.

Ich habe mein Engagement jetzt um ein Jahr verlängert, weil ich als Klassenlehrer einer dritten Klasse in Verantwortung bin (es gäbe niemanden, der den Job sonst machen könnte, außer eine neuerliche Interimslösung, das will ich den Kindern nicht antun). Ich beobachte das.

Irgendwo bellte ein Hund X

Wolfram Lotz, Heilige Schrift I, Fischer Verlag 2022, S. 658.

GO WHERE YOUR ROUTINE CAN’T blinkt da, schon klar, mach ich ja, weiter jetzt, Broadway hoch, Vögel im Gebüsch, nach rechts in die 48. Straße, den Kiesweg den Weinberg hoch, Blick in die Ebene, hinten der Schwarzwald im Dunst, zwei Arbeiter zwischen den Reben, was besprechend, ein Hund bellt von weit her;

Irgendwo bellte ein Hund IX

Kiezneurotiker, https://maschinist.blog/2023/05/08/glauchau-2023/, Mai, 2023.

Ich fühle mich leicht provoziert, aber wo ein Hund bellt, da bin ich zur Stelle.

„Vor einer blauen Mülltonne, aus der eine Krähe ein Stück Pappe zieht, auf einem größtmöglichen Plakat die Botschaft: Willkommen daheim. Irgendwo bellt ein Hund. Einer lässt von seinem Audi die Reifen (soooooolche Schlappen!) quietschen. Der nächste Bus kommt in zwei Stunden“

Natürlich lese ich dort, ist Pflichtlektüre. Niemand kann Orte so schön beschreiben wie er.

Irgendwo bellte ein Hund VIII

Andreas Glumm, https://glumm.wordpress.com/2023/03/30/taxi-zum-selbstmord/, 30. März 2023.

„In der Tiefe, unten in Müngsten, nahm ich einige wenige Lichter und Laternen wahr, ich hörte irgendwo einen Hund bellen, und da war das leise Plätschern der Wupper, zu meiner Überraschung, schließlich war der Fluss über 100 Meter entfernt.“

Andreas Glumm, https://glumm.wordpress.com/2022/11/02/schulschluss-2/, November 2022.

Gebell von fernen Höfen empfängt von jeher jeden Fremden, der unangemeldet aufkreuzt, aus gutem Grund: Es könnte stets die Gendarmarie sein. Überall in den verstreuten Tälern des Bergischen Landes hatte sich steckbrieflich gesuchtes Gesindel breit gemacht, das sich in den großen Städten an Rhein und Ruhr nicht mehr blicken lassen konnte, aus welchen Gründen auch immer. Es ist dieses dunkle Erbe, das dem Bergischen Land bis heute zu schaffen macht.

Jetzt neu im Angebot: Mathe

Ein Missverständnis führte am Ende des ersten Halbjahres dazu, dass ich im zweiten Halbjahr mein gesamtes Stundenkontingent an einer Grundschule durchbringe. Zu tun hatte dies auch mit glücklicher Einstellung neuer Kolleginnen an der einen Schule und großer Not an der anderen. Leider ist es die Schule geworden mit dem längeren Fahrtweg. Glücklicherweise die auf dem Land.

Vor den Ferien hat mich meine Schulleiterin gefragt, ob ich nicht verlängern wolle. Ich bejahte spontan, denn mein neuer Stundenplan versprach Abwechslung. Neben Deutsch viel Mathe und wenig Sachunterricht, jetzt gar keinen mehr, sondern nur noch Deutsch und Mathe. Wenn mein Mathelehrer wüsste, dass ich jetzt an einer Grundschule Mathematik unterrichte, der würde lachend tot umfallen. Nun ist er aber schon tot, liegt also schon, da hat er auch nichts mehr zu lachen.

Von der Addition zur Multiplikation überzugehen in einer zweiten Klasse, die rauchenden Köpfe zu beobachten, mit und um das Verständnis zu ringen, wieder und wieder, mal mit der Hand, mal mit den Ohren, mit den Augen, mit einfach allen Sinnen Zahlen und Rechenoperationen zu verarbeiten, das ist schon etwas Einmaliges, wenn man das, so wie ich, zum ersten Mal erlebt. Rechenspaß für spraakvansmaak.

Wie viele „Aha-Momente“ es da schon gab, und dann wieder „ach nee, doch nicht“, Versuch und Irrtum, große Klappe, ganz große Klappe, stille Mäuschen mit fragenden Blicken und erst ein einziges Mal den Satz: „Ich verstehe das nicht.“, weil sie alle wollen und nur einmal dachten, sie kommen später im Ganztag so um ihre Hausaufgaben herum. Klappte aber nicht, die Kolleginnen dort sind auf Zack.

Am Ende der Stunde stehen alle auf und wir zählen durch. Die Kinder dürfen dann bestimmte Zahlen nicht aufsagen, mal alle Zahlen der Viererreihe nebst allen Zahlen, die eine 4 enthalten, wie zum Beispiel die 14. Dann nehmen wir die 6er, dann die 7er oder die 3er. Wer eine Zahl aus der Reihe nennt, scheidet aus. Wenn wir das am Ende nicht spielen, sehe ich enttäuschte Gesichter, so simpel ist das.

Kein Schwein

Information: Ein Pappschild, schwarz mit weißer Schrift, von unten an eine Glasablage geklebt.

Zitat:     Wir verwenden zur

Gelierung unserer Produkte

nur rein pflanzliche Pektine

„Kuchen braucht kein Schwein!“

Kommentar: Der erste Satz ist zu vernachlässigen, denn er enthält ja lediglich die Information, dass es sich bei den angebotenen Kuchen um Produkte handelt, die rein vegetarischer Natur sind. Es ist der zweite Satz, der Aufmerksamkeit verdient.

Wir können uns dem Phänomen auf zweierlei Art nähern. Zum einen sind da die vielen Redewendungen, die sich auf das Schwein beziehen, ja, ohne dies gar nicht auskämen. Denken wir nur an „Das kann kein Schwein lesen!“ oder „Schwein gehabt!“ oder eben das hier verwurstete „Das braucht kein Schwein!“ Tja, und spätestens hier fällt plötzlich auf, dass die Annäherung gut funktionieren könnte, wenn…

Ja, wenn. Wenn da nicht dieser kleine Makel anhinge. Ich habe jetzt gefühlt seit Ewigkeiten nach dem grammatikalischen Fachbegriff gesucht – zwischenzeitlich bin ich sogar bei Genette gelandet, der ja mit Sprache gar nichts am Hut hatte, für den zählte ja nur Literatur – bis ich einsehen musste, dass ich nicht nur vergessen habe, was es ist, sondern auch wo es steht. Nennen wir es also einfach syntaktische Fokussierung. Was meine ich damit? Ein typischer deutscher Hauptsatz besteht im Deutschen aus mindestens einem Subjekt, einem Prädikat und vielleicht noch einem Objekt, so wie das in unserem Beispiel auch der Fall ist. Ein typisch deutscher Hauptsatz hat allerdings auch genau diese Satzgliedstellung: Subjekt Prädikat Objekt, kurz SPO. Wenn wir aber eine syntaktische Fokussierung vornehmen wollen, so dürfen wir im Deutschen dem Objekt, obwohl es dem Prädikat und dem Subjekt untergeordnet ist, eine größere Bedeutung beimessen und es nach ganz vorn in die Reihe stellen, also OPS. Das machen wir vor allem dann, wenn uns das Objekt entweder besonders oder überhaupt nicht wichtig ist, wie in dem Fall des oben genannten Sprichworts: „Das braucht kein Schwein!“. „Das“ ist in diesem Fall das Objekt, denn Schweine brauchen „das“ nicht. Die Frage nach dem Objekt, genauer hier: Akkusativobjekt, ist immer „Wen oder was braucht kein Schwein?“ Und sie antworten entweder mit „das“ oder „Hosenträger“, „Lachstartar“ etc.

Und nun schauen wir doch einmal gemeinsam auf den Satz auf dem Foto. Natürlich könnte dieser Satz auch einem Kuchenhasser herausgerutscht sein und es sich bei dem „Kuchen“ um das Objekt handeln, aber erst andersherum, als Subjekt, entfaltet der Satz seine ganze Wirkung. Der Kuchen ist Subjekt, das Schwein ist Objekt, weil es für Kuchen eben kein Schwein braucht, wenn auf tierische Gelatine verzichtet wird. Ungewohnt gewöhnlich kommt dieser Satz also daher. Das macht diesen Satz so besonders. Ein toller Satz!

edit: Topikalisierung heißt es

Irgendwo bellte ein Hund VII

„Ich entsinne mich des Schauplatzes in diesen letzten Minuten – des gleichen Herbstmondes über den Gräbern, der lange schreckliche Schatten warf…

… und was das Schlimmste war, des schwachen, tieftönenden Bellens eines riesigen Hundes, den wir weder sehen noch ausmachen konnten.“

H.P. Lovecraft, Stadt ohne Namen, Suhrkamp Verlag, 1981, S. 36.

gestern

ges|tern, du gestertest, du hast gegestert (ugs. für die Vergangenheit schwärmend)

vor|ges|tern, du vorgesterst, du hast vorgegestert [fachspr. die Zukunft als bereits geschehen betrachten, nur unter Sprachwissenschaftlern (vgl. Futur II) und Zeitreisenden gebräuchlich]

Verjagt

Dies Schuljahr treibe ich mich an zwei Grundschulen gleichzeitig herum. Bis auf die Montage und Freitage heißt das, ich fahre während der Pausen von einer zur anderen Schule. Manchmal auch montags von einer zur anderen, weil natürlich der Konferenztag der einen Schule am Montag ist und ich diese Schule am Montag sonst nicht besuche. Die Grundschulen liegen nur 10 Minuten Fahrweg auseinander, erschwert und verlängert durch ein paar Vollsperrungen.

Die Schulen sind sich nicht so ähnlich. Während die eine ein eher städtisches Milieu anzieht und anstrengende Eltern hat, ist die andere sehr ländlich geprägt mit der entsprechend weniger besorgten Elternschaft. Das zeigt sich auch bei der Lektüre, die ich im Unterricht gerade lese. Beschwerden bezüglich der Brutalität der Texte gab es nur aus der städtischen Schule. Dabei lese ich doch nur „Der Zauberer der Smaragdenstadt“. Ich gebe zu, die Stelle, als der Menschenfresser geköpft wird, ist schon ein wenig brutal, aber erinnern möchte ich hier nur einmal kurz an die Grimmmärchen, bei denen Hexen in Öfen verbrannt werden, Wölfen die Bäuche aufgeschnitten werden und Frösche an der Wand zerschellen.

Ich habe auf die Mail der Elternvertreterin natürlich vorbildlich reagiert und angemerkt, dass ich solche Stellen in Zukunft vermeiden werde vorzulesen. Und just ein Kapitel weiter war es dann soweit. Eine Wildkatze wird enthauptet, was der Königin aller Feldmäuse das Leben rettet. Noch im Leseprozess begriffen, denn ich hatte mich gar nicht richtig vorbereitet, änderte ich den Text ab und ließ die Wildkatze nur verjagt werden, was zwar noch weitere spontane Textänderungen im Lesefluss evozierte, aber letztlich komplett gelang. Dumm nur, dass ich gerade an der falschen Schule war.